Wie mich die Finnen an Mittsommer wahnsinnig machen wollten
Ein übles Magengefühl beschleicht mich. Es ist das Mittsommernachts-Übermüdungsgefühl. Mein Körper findet Übernächtigung nicht so toll. Aber es hat sich gelohnt!
Zufrieden lehne ich mich in den Bussitz zurück und schau raus auf die grünen Wiesen, über denen die Nebelschleier in Richtung Waldrand huschen. Grün beruhigt. Und das weiche Morgenlicht wärmt sogar ein bisschen.
Kühler Sommermorgen
Das ist auch bitternötig, denn meine Füße sind eiskalt. Bei 5 Grad stand ich draußen vor dem Haus am See Suutarinselkä und habe jeden einzelnen Sonnenstrahl um 4 Uhr morgens begrüßt – ohne Beifall, aber mit Kamera. Und dabei mag ich doch diesen Sonnenauf- und untergangsquatsch überhaupt nicht!
Die langen Tage im hohen Norden sind jedoch speziell. Im Herzen Finnlands längst nicht so extrem wie oberhalb des Polarkreises in Lappland. Hier um Tampere taucht die Sonne durchaus für ein paar Stunden unter den Horizont. Nur dunkel wird es dabei nicht. Das geht so von Juni bis August.
Sauna am Morgen
Ab 1 Uhr sitzen wir in der Villa Latosaari am See und schauen auf den orange-goldenen Streif am Firmament und sein flüssiges Spiegelbild. Es wird nach finnischer Art sauniert und obwohl die Luft nur noch 5°C hat, springen tapfere Frauen in den vergleichsweise 16°C warmen See. Ich bin natürlich ein Weichei … äh … vielbeschäftigt mit Fotografieren und muss die Sauna auslassen.
Man isst vom Buffet, das Hüttenbesitzer Juri selbst gebastelt hat und kippt ein paar Weinchen – Kippis! Vor dem Haus wird ein Lagerfeuer entzündet, nur klein, kein Juhannus-Feuer wie am 21.6. Natürlich hat einer der finnischen Gastgeber ein Fläschchen Schnaps dabei… Dies ist der Finnen liebste Jahreszeit: Wenn am Wochenende alle aufs Land flüchten und in ihre Hütten krabbeln, um kurz darauf hochrot geschwitzt wieder herauszukommen und in einen See zu hüpfen. Die weißen Nächte machen sie aber nicht jeden Tag durch.
Tampere Stadtrundfahrt
Mein Magengefühl war noch super, als ich heute Morgen um 9.30 Uhr am Frühstücksbuffet zur typisch Tamperer Blutwurst griff. Musta makkara mit Preiselbeermarmelade ist etwas ganz vorzügliches, so wie Haggis oder Himmel un Äd. Gut gestärkt folgte ich Frau Outi Burri auf ihrer Stadtführung durch den nationalromantischen Dom mit russifizierten Wandmalereien, zur größten Sulzer-Dampfmaschine Nordeuropas im Finlayson Museums-Komplex und an den birkenbestandenen Strand Rauhaniemi am Pyhäjärvi-See.
Kurz darauf stand man im Stadtteil Pyynikki, begrüßte den Stargast des Tages: die Sonne und blickte auf den See herunter. Dazu speiste man einen gezuckerten und gepfefferten Donut, den sie hier donitsi nennen. „Was die Deutschen Wald nennen, ist für Finnen nur ein Park“ sagt Frau Outi Burri und schon schunkeln wir durch selbigen wieder gen Stadt.
Nach einem mehrstündigen Rundgang durch die 10 Ausstellungen des Vapriikki (ehemaliges Fabrikgebäude)-Museums inkl. Eishockey Hall of Fame, machte ich mit immer noch gutem Magengefühl einen kleinen, ungeführten Spaziergang durch die ehemals große Textilherstellerstadt Tampere. Frau Sonne immer an meiner Seite. Auf einem der Plätze spielte eine Band, die Finnen speisten Eis – Jäätelö.
Mittsommer an finnischen Seen und Hütten
Um 19 Uhr hatte ich meinen Magen zum dritten Mal an diesem Tag mit etwas Nährstoffhaltigem gefüllt. Es sollte nun ja auch erst losgehen: der Mittsommerwahnsinn! Wahnsinnig macht einen dieses Starren auf Birken-, Kiefern- und Tannenstämme schon ein bisschen. Die Sonne flirrt durch die Baumspitzen zum Verrücktwerden! Total irre wird es, als wir nicht wie angekündigt in Mänttä, sondern an einem einsamen Wildnis-Hof stoppen. Dort wartet ein Krebsfischer auf uns und führt uns das nette Gehöft mit 2 Häusern, Restaurant und 27 Zimmern vor. Leider bleiben wir nicht, wahnsinnig viel Glück bedeutet das für die Flusskrebse, die er uns kurz mal aus dem Käfig holte.
Mittsommer im Museum – was für ein Theater!
Das erste Flackern im Bauch setzt im Museum Gustaf ein, als Mrs. Storck uns in einer Linie antreten lässt und inspiziert. Live-Theater mit ungewolltem Mitspielen – wie aufregend. Ich habe eine Camouflage-Hose angezogen, sehe aus wie ein Waldschrat und die Dame will uns auf Papiermühlentauglichkeit testen! Mrs. Storck ist definitiv die Irre hier. Die Dame im 50er Jahre Outfit findet uns alle nicht dem Geist der Zeit entsprechend. Sie zeigt uns hochnäsig die kalte Schulter für unsere unpassenden Outfits. Die Disziplin ist auch zum Verrücktwerden – alle kichern.
Wir tun der Sekretärin des Herrn Serlachius den Gefallen und lassen uns sein altes Papiermühlen-Headquarter vorführen. Unser zukünftiges Betätigungsfeld. Das heutige Museum erzählt vor allem die Geschichte des Besitzers – einem wahninnigen Arbeitstier, aber auch irre fleißigen Kunstsammlers. Der Spuk ist nach 1,5 Stunden vorüber. Die Storck verabschiedet sich mit dem Hinweis auf pünktliches Erscheinen am Montag und die mitzubringenden Papiere. Ich bin erleichtert, das Theaterstück ohne große Blamagen überlebt zu haben, der Magen hat sich wieder beruhigt.
Es ist noch immer hell um 22.30 Uhr als wir uns in Richtung Art Hotel in Bewegung setzen. Die Riesenvilla im Grünen, in der bereits König Gustaf nächtigte, gewährt uns einen Blick auf den abendlichtigen Himmel durchs Panoramafenster im Speisesaal. Nach Schnittchen und Sekt war ich so verrückt, mal eben der Heimat nun das Finale an der Hütte am See anzukündigen. Pustekuchen! Es ist ja mal grade 23.50 Uhr, da kann man doch noch mal ins Museum gehen!
Nachts im Museum von Mänttä
Das Gösta ist ein ganz neues Museum im kunstverständigen Mänttä. Die horten hier unter anderem, große Popart. Wir werden mit Schokolade gefüttert und in den alten Flügel des Museum geführt. Als wir soeben das Deckengemälde bestaunen, schaltet sich das Licht aus. Wahnsinn! Während ich noch ein Konzept vermute und mich über „Nachts im Museum“ freue, stellt sich jedoch heraus, dass das Licht aus bleiben wird. Wir wandern im Schein der Handys zum Foyer zurück und mit Notbeleuchtung in den Gängen zur Popart-Ausstellung. Im Schein des fahlen Sommerlichts, das durch das einzige Fenster am Raum fällt, sehen wir den metallenen Torso von Damien Hirst. Ich blitze noch die übergroßen Poster des diamantbesetzten Schädel mit an, aber tiefer in den Raum – zu Warhole und Lichtenstein – dringe ich nicht mehr durch. Nachts im Museum – ist es dunkel.
Endlich Hütten-Romantik am See
Schließlich steigen wir ins Auto und steuern das Hüttchen von Juri an. Erst auf der kurzen Fahrt zur Insel Ajosjärvessä sehe ich den Himmel und wie das Licht darauf mit seinen Spektralfarben experimentiert. Wer braucht Kunst, wenn er solche Natur haben kann?! „Wann sind wir da?“ muss ich fragen. „In 2 Minuten.“ kommt zurück. Gut, solange kann ich noch warten. Am Parkplatz vor dem Steg zur Insel fallen beinahe 5 Fotografen übereinander, weil sie unbedingt die Nebel überm güldenen Wasserspiegel ablichten müssen. Mir wird lyrisch und kurz darauf kalt.
Ab 3.00 Uhr werde ich wieder richtig munter und fiebere dem Sonnenaufgang entgegen. Wie lange denn noch? Um 3.30 Uhr steh ich zum wiederholten Male in dieser Nacht mit Stativ und Auslöser vor der warmen Luxushütte. Das Licht wird intensiver, der Himmel orange, über den Tannenbaumspitzen am Horizont wird es greller. Verrückt dieser Anblick, verrückt, dass ich hier ohne Handschuh und Mütze angereist bin. Irre schön als um 4 Uhr die Sonnenstrahlen mein Gemüt kitzeln. Doch doch, es hat sich gelohnt. Guckt euch die Fotos an!
Es ist jetzt 5.45 Uhr, ich bin wieder im Hotel in Tampere, hundemüde und noch immer leicht flau im Magen.
Gute Nacht & Happy Mittsommer!
Diese Recherchereise wurde unterstützt von Visit Tampere. Vielen Dank dafür!
Stichworte: hütte, juhannus, kunst, mittsommer, museum, see